Thursday, August 09, 2018

Wir alle haben einen Migrationshintergrund! Warum verschliesst sich Deutschland für seine eigene Migrationsgeschichte?

Was mir in der deutschen Migrations-Debatte fehlt ist die Reflektion über die deutschen Migrationserfahrungen der neueren Geschichte.

Ich glaube, wenn die historischen und aktuellen Migrationserfahrungen der Deutschen offener diskutiert würde und das Bewußtsein über die deutschen Migrationserfahrungen stärker und positiver besetzt wäre, wären viele Menschen auch offener im Umgang mit aktuellen Migranten.

Es gibt seit Jahrhunderten eine deutsche Diaspora weltweit. Ob das die bekannten Emmigrationswellen des 18. und 19. Jahrhunderts nach Kanada, Australien und in die USA waren, die Migrationen nach Ost- und Südosteuropa, Südrussland, oder weniger bekannte historischen Migrationen zum Beispiel nach Argentien, Brasilien, Venezuela, Mexiko, Guatemala, Südafrika, oder in die Türkei.

Die deutsche Migrationsgeschichte war oft traumatische Erfahrungen bedingt durch politische Repression, existenzbedrohende Wirtschaftskrisen oder die Auswirkungen von Kriegen, wie im Fall der Migration aus Osteuropa nach dem 2. Weltkrieg. Wahrscheinlich liegt es an dieser traumatischen Erfahrung, dass die deutsche Migrationserfahrungen nicht offener und breiter diskutiert werden. Es waren Erfahrungen, die man lieber vergessen und verdrängt.

Auch wenn die Mehrheit der historischen Migranten aus politischen, ökonomischen oder religiösen Gründen bewusst von Deutschland abwandten und sich nicht mehr aktiv als Deutsche identifizieren wollten, bringt der Migrationsprozess doch immer wichtige Erkenntnisse über die eigene Identität. Konfrontiert mit anderen Verhaltensweisen und Kulturen, wird man sich in der Fremde der eigenen kulturellen Prägung erst richtig bewusst. Bisher sehe ich diese Migrations-Erfahrungen aber noch kaum deutschen Diskurs einfliessen.

Die momentan populärsten Ziele deutscher Migration sind zum Beispiel die Schweiz, die USA, Österreich, Großbritannien, Spanien und Polen. Ein neuer, positiver Effekt der aktuellen deutschen Migration ist, dass es immer mehr eine temporäre und rotierende Migration ist - während z. B. 2006 144,000 Deutsche auswanderten, wanderten gleichzeitig 128,000 wieder ein.

Dies setzt sich auch in der aktuellen Geschichte in der Form von "Expatriates" fort: wenn in Deutschland über Integration, Migration und gerade Arbeitsmigration gesprochen wird, wird oft ausgeklammert in welchem Masse die deutsche Bildungselite international migriert. Gerade unter Akademikern ist es inzwischen fast unabdingbar im Ausland gearbeitet zu haben - ob temporär oder permanent. In den letzten 10 Jahren wurden Studien -, Arbeits- oder auch schlicht Lifestylemigrationen aber auch immer mehr zur Mehrheits(Mittelschichts)erfahrung.

Warum sollten wir diese Migrations-Erfahrungen nicht positiv in die deutsche Migrations- und Integrationsdebatte einbringen? Es erscheint mir unaufrichtig, der Bevölkerung mehr Integrationsbereitschaft zu verordnen, ohne seine eigene Rolle in diesem Diskurs klarzustellen.

Meine eigene Geschichte: erzwungene und traumatische Migration meiner Großeltern von Ostpreußen und Schlesien nach Deutschland nach dem 2. Weltkrieg. Rettung aus der prekären Lage durch "Einheirat" in lokale Familien.

Die Erfahrung meiner Eltern von der DDR-Realität in die Welt und die Möglichkeiten der neuen Bundesrepublik kann durchaus als eine Art nicht-geografische "Migrationserfahrung"gesehen werden, da sich das komplette Umfeld schnell und drastische änderte und meine Eltern sich über kurze Zeit hinweg neu orientieren und anpassen mussten, und auch eine neue Form der Verständigung erlernen mussten.

Meine eigene geografische Migrationserfahrung führte über 12 Jahre hinweg von Italien über Kanada, Guatemala nach London. Seit 2 Jahren bin ich jetzt "zurück" in Deutschland und erfahre, dass ich in Berlin ebenso erst "ankommen" muss wie alle Migranten. In Thüringen und Sachsen aufgewachsen, habe ich bisher nie in Berlin gelebt und bin in dieser Stadt wesentlich mehr ein Migrant als zum Beispiel viele der türkisch-stämmigen Bewohner, die hier schon seit 20-30 Jahren leben.

Von einer solchen Perspektive aus macht es wenig Sinn, von "Migranten in Deutschland" zu sprechen. Alle Menschen, die momentan in Deutschland leben, haben einen Migrationsvorder- oder hintergrund - bei manchen liegt dieser nur schon länger zurück, während er bei anderen er noch sehr frisch ist. Entscheidend für die Zugehörigkeit sind die Selbstdefinierung als Teil dieser Gemeinschaft und die Bereitschaft sich einzubringen.

Die Gründe dafür, dass diese Realität bisher nicht offener diskutiert wird, sind wahrscheinlich zum Teil durch die historischen Traumata der Migrationserfahrung und die Tabus um die Diskussion deutscher Identität bedingt. Gleichzeitig bringt aber das Verschweigen dieser Erfahrungen neue Ressentiments und Ausgrenzungen hervor. Gemeinschaftliche und individuelle Identitäten sind immer fluide und müssen immer wieder neu ausgehandelt werden. Vor diesem Hintergrund find ich ist an der Zeit, dass die Unterscheidung zwischen "Deutschen" und "Migranten" aufgehoben wird.

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